Autismus und ADHS
Autismus und ADHS gleichzeitig: Ist das möglich?
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, und Autismus treten nicht gemeinsam auf, sondern schließen sich gegenseitig aus – so zumindest war lange Zeit die gängige Praxis in der medizinischen Diagnostik.1, 2 Doch heute weiß man: Das ist so nicht richtig. Obwohl sich die Symptome beider Störungsbilder in einigen Punkten scheinbar widersprechen, können ADHS und Autismus gleichzeitig vorkommen.1, 3 In diesem Kontext hat sich in den vergangenen Jahren die inoffizielle Bezeichnung AuDHS verbreitet – ein Kofferwort aus den Begriffen ‚Autismus’ und ‚ADHS’.
Um die eher abstrakten Fakten anschaulicher zu machen, greifen wir im Verlauf des Textes immer wieder auf zwei konkrete Beispiele zurück: den neunjährigen Jungen Manuel (Name abgeändert), bei dem Autismus und ADHS gemeinsam diagnostiziert wurden, und Luca, einen Erwachsenen, der über seine Erfahrungen mit beiden Störungsbildern berichtet. Lucas Geschichte ist online nachzulesen.
Inhaltsverzeichnis // Lesedauer: ca. 3:15 min
ADHS und Autismus treten häufig gemeinsam auf
Dass Autismus und ADHS zusammen vorkommen, ist gar nicht so selten. Eine große Analyse von 63 Studien hat gezeigt: Etwa vier von zehn Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung haben zusätzlich ADHS – genau genommen 38,5 % aktuell (die Diagnose gilt also zum Zeitpunkt der Untersuchung) und 40,2 % irgendwann im Leben (lebenszeitbezogen).4 Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen: Rund 40 % der Autistinnen und Autisten erfüllen auch die Kriterien für ADHS.4, 5
Wie sehr sich die Symptome überlagern können, zeigt das Beispiel des neunjährigen Manuel: Bei ihm wurden zunächst psychotische Symptome vermutet, bevor eine ausführliche Diagnostik ergab, dass er sowohl Autismus als auch ADHS hat. Erst die Kombination aus Verhaltenstherapie, schulischer Unterstützung und Medikamenten brachte eine spürbare Entlastung.7
AuDHS: Eine neue medizinische Diagnose?2, 8
Früher galt: Wer die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung bekam, konnte nicht gleichzeitig die Diagnose ADHS erhalten – und umgekehrt. So war es in der älteren Fassung der ICD-10-GM festgelegt. Die ICD („International Classification of Diseases“) ist das weltweit wichtigste Klassifikationssystem für Krankheiten. Ärztinnen und Ärzte nutzen sie, um Diagnosen eindeutig festzuhalten und international vergleichbar zu machen. In der ICD-10-GM waren Autismus (unter der Kategorie F84) und ADHS (unter der Kategorie F90) einander ausgeschlossen.
Heute ist das anders: Mit den aktuellen Diagnosehandbüchern – dem DSM-5 aus den USA und der ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation – können Fachleute beide Störungen auch gleichzeitig diagnostizieren. In der ICD-11 sind Autismus (6A02) und ADHS (6A05) als eigenständige Störungen beschrieben , die bei einer Person durchaus zusammen auftreten dürfen. In diesem Fall spricht man von Komorbidität, also von gleichzeitig bestehenden Erkrankungen.
Zur Einordnung: Die ICD-11 wurde 2019 beschlossen und ist seit 2022 offiziell in Kraft. In Deutschland gilt für die medizinische Praxis jedoch weiterhin die ICD-10. Bis die ICD-11 hierzulande vollständig eingeführt ist, wird es noch mehrere Jahre dauern.
Was ist eigentlich ADHS?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und ist eine neuronale Entwicklungsstörung, die typischerweise schon im frühen bis mittleren Kindesalter auftritt. Gemäß des internationalen Klassifizierungssystems ICD-11 sind die hauptsächlichen Symptome Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Dies bedeutet, dass betroffene Kinder z. B. erhebliche Schwierigkeiten haben, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, still zu sitzen oder sich selbst zu kontrollieren. Die Symptome müssen aber nicht bei allen Kindern gleich stark auftreten – ähnlich wie bei Autismus sind ADHS-Symptome innerhalb eines Spektrums ausgeprägt. In der Diagnostik unterscheidet man daher z. B. überwiegend unaufmerksame von überwiegend hyperaktiv-impulsiven Erscheinungsformen.8
Autistisch, unkonzentriert, hyperaktiv: Ist es so offensichtlich?
Es ist nicht einfach, ADHS und Autismus als gleichzeitig auftretende Komorbiditäten bei einem Kind zu diagnostizieren. Beide gehören zu den früh einsetzenden Entwicklungsstörungen, die innerhalb eines Spektrums liegen, und beide treten bei Jungen häufiger auf als bei Mädchen.1
Gemeinsamkeiten:
Sowohl bei ADHS als auch bei Autismus können Kinder ähnliche Schwierigkeiten zeigen – etwa Probleme mit Aufmerksamkeit und Reizüberflutung, Beeinträchtigungen bei exekutiven Funktionen oder eine ausgeprägte Impulsivität.3 Auch Schlafprobleme und weitere körperliche Beschwerden sind in beiden Gruppen deutlich häufiger als bei gleichaltrigen Kindern ohne Diagnose.6 Darüber hinaus deuten Studien auf genetische Überschneidungen hin: So treten ADHS und Autismus in manchen Familien gehäuft auf, was auf gemeinsame Risikofaktoren schließen lässt.1, 3 Diese Gemeinsamkeiten erklären, warum die Abgrenzung zwischen beiden Störungsbildern oft herausfordernd ist und warum eine Komorbidität möglich ist.
Wie widersprüchlich sich das im Alltag anfühlen kann, verdeutlicht AuDHS-Betroffener Luca: Seine „ADHS-Seite“ ist genervt von starren Routinen, während seine „autistische Seite“ sie braucht, um sich sicher zu fühlen. Die Folge: Luca hat ständig mit inneren Konflikten zu kämpfen und das Gefühl zwischen zwei Polen zu schwanken.9
Unterschiede:
Trotz der Überschneidungen gibt es auch charakteristische Merkmale, anhand derer Fachleute Autismus und ADHS unterscheiden können:1, 3
ADHS
Autismus-Spektrum-Störung
Autismus und ADHS: Wie behandeln?
Für ADHS wie auch für Autismus gibt es etablierte verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Bei ADHS kommen außerdem auch pharmazeutische Wirkstoffe zum Einsatz, allen voran Methylphenidat, ein häufig verwendetes Stimulans. Eine Autismus-Spektrum-Störung bzw. dessen Kernsymptome werden im Regelfall nicht medikamentös behandelt. Tritt eine Autismus-Spektrum-Störung allerdings gemeinsam mit ADHS auf, kann eine medikamentöse Therapie sinnvoll sein.
Zum Beispiel kann es sein, dass Kinder mit Autismus und ADHS durch Medikamente eher an einer Gesprächstherapie teilnehmen oder Herausforderungen im Alltag besser meistern können. Selbstverständlich gehört die medikamentöse Therapie in die Hände von Spezialistinnen und Spezialisten. Ein besonderes Augenmerk sollte bei Kindern mit ADHS und Autismus etwa auf der Dosierung der Medikamente liegen.1, 10
Wie wirkt Methylphenidat?
Methylphenidat gehört zur Gruppe der sogenannten Stimulanzien: Der Wirkstoff setzt an bestimmten Nervenzellen im Gehirn an und blockiert den eigentlich eintretenden Abbruch nach einer Signalübertragung. Somit hält die Übertragung länger an. Bei Kindern mit ADHS kann Methylphenidat so dazu beitragen, die Aufmerksamkeit zu erhöhen, die Konzentrationsfähigkeit zu verbessern und impulsives Verhalten zu verringern.1, 10
Autismus und ADHS bei Erwachsenen: Eine besondere Herausforderung
Beim Übergang in das Erwachsenenalter können sich die Symptome und Einschränkungen von Autismus und ADHS verändern – dennoch bleiben die Störungsbilder im Regelfall bestehen. Insbesondere bei Erwachsenen mit Autismus und ADHS gleichzeitig kann die Lebensqualität stark eingeschränkt sein. Die Betroffenen haben oft gravierende Probleme im beruflichen, familiären und sozialen Bereich. Hinzu kommt, dass Erwachsene nicht selten Mechanismen entwickelt haben, Symptome äußerlich zu kompensieren oder Auffälligkeiten zu überdecken. Dies stellt die Diagnostik und Therapie von ADHS und Autismus bei Erwachsenen vor besondere Herausforderungen.1, 3
Schlafprobleme bei Autismus und ADHS
Neben den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in Symptomen und Verhalten gibt es ein weiteres Thema, das im Alltag beider Störungen von großer Bedeutung ist: der Schlaf. Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung leiden nach Studienlage in bis zu 80 % der Fälle unter Ein- oder Durchschlafstörungen, bei Kindern mit ADHS sind es bis zu 73 %. 1, 2 Kommen beide Störungsbilder zusammen, können diese Schwierigkeiten sogar verstärkt auftreten – was den Alltag zusätzlich belasten kann.11 Als mögliche Ursachen vermuten Fachleute Besonderheiten im Gehirn und im Hormonhaushalt – zum Beispiel eine nächtliche Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin. Außerdem wird vermutet, dass ungünstige Schlafgewohnheiten und mögliche Nebenwirkungen von ADHS-Medikamenten ebenfalls zu Schlafproblemen führen können. 11
Schlafprobleme betreffen hierbei nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene: Luca beschreibt etwa ein verzögertes Schlafphasensyndrom, das typisch bei ADHS ist. Für ihn bedeutet das, dass sein natürlicher Biorhythmus um mehrere Stunden verschoben ist – er wird oft erst nach Mitternacht müde und kommt morgens kaum aus dem Bett.9
Weil dauerhafter Schlafmangel eine Auswirkung auf Autismus- und ADHS-Symptome wie Unruhe, Reizbarkeit oder Konzentrationsschwierigkeiten haben kann, ist eine frühzeitige Diagnose und Behandlung in beiden Fällen entscheidend.
Diagnostische Herausforderung im Kindesalter:
Sowohl Autismus als auch ADHS treten in der Regel schon im frühen Kindesalter auf und entwickeln sich nicht erst im Erwachsenenalter.1 Dennoch wird eine Komorbidität häufig nicht sofort erkannt, weil sich die Symptome überschneiden oder zunächst nur ein Störungsbild im Vordergrund steht. Hinzu kommt, dass gängige Diagnoseinstrumente nicht immer zuverlässig zwischen den beiden Störungsbildern unterscheiden können, weshalb klinische Interviews und umfassende Beobachtungen notwendig sind.3
Gerade der Fall des kleinen Manuel macht deutlich, wie komplex das sein kann: Bei ihm wurde zunächst eine Psychose vermutet, erst später konnte durch ausführliche Tests die Doppel-Diagnose Autismus + ADHS gestellt werden. Solche Fälle zeigen, wie wichtig eine sorgfältige und wiederholte Diagnostik ist – auch um zu verhindern, dass die eine Störung die andere „überlagert“ und wichtige Anzeichen übersehen werden.3