In den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts hielt Autismus als neurologisches Störungsbild Einzug in die offiziellen medizinischen Klassifikationssysteme – zurückgehend auf die frühen Forschungsarbeiten des austro-amerikanischen Kinderpsychiaters Leo Kanner wurde hierbei unter anderem der Begriff ‚Frühkindlicher Autismus‘ eingeführt.1, 2

Mit dem Asperger-Syndrom und dem Atypischen Autismus war Frühkindlicher Autismus seitdem eine der drei Autismusformen, die bis heute als diagnostische Kategorien angewendet werden.2 Mit der offiziellen Einführung des Klassifikationssystems ICD-11 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) im Jahr 2022 wird diese Einteilung aufgehoben.3, 4 Doch warum ist die Einteilung überarbeitet worden und was bedeutet das für die Diagnose ‚Frühkindlicher Autismus‘?

Was ist Frühkindlicher Autismus?

In dem Klassifikationssystem ICD-10, der Vorgängerversion von ICD-11, wird Frühkindlicher Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert, die innerhalb der ersten drei Lebensjahre auftritt und mit einer gestörten sozialen Interaktion und Kommunikation einhergeht. Die betroffenen Kinder zeigen zudem typische Muster von sich wiederholendem (repetitivem) Verhalten. Hinzu können zahlreiche unspezifische Probleme kommen, z. B. Ängste und Aggressionen sowie Ess- und Schlafstörungen.2, 5

ICD steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) und wird seit der sechsten Version in der Mitte des 20. Jahrhunderts von der WHO herausgegeben.6

Was ändert sich mit ICD-11?

Mit dem Klassifikationssystem ICD-11 wird Autismus in verschiedene Ausprägungen innerhalb eines Spektrums aufgeteilt, den Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Autismus-Spektrum-Störungen haben hauptsächlich zwei Merkmale gemeinsam:4

  • Anhaltende Defizite in der Fähigkeit, wechselseitige soziale Interaktionen und soziale Kommunikation zu initiieren und aufrechtzuerhalten
  • Eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten, die für das Alter und den soziokulturellen Kontext der Person eindeutig untypisch oder exzessiv sind

Diagnostische Kategorien in ICD-11

Anstatt des Kriteriums des Alters zur Unterteilung in Frühkindlichen Autismus und spätere Formen, richten sich die diagnostischen Kategorien in ICD-11 nach der Entwicklung der Intelligenz und der abgestuften möglichen Beeinträchtigung der funktionellen Sprache – zum Beispiel, wie eine Person ihr Verhalten an die Umwelt anpassen kann und wie sie Wünsche und Bedürfnisse artikuliert. Demnach werden hauptsächlich fünf Formen von Autismus-Spektrum-Störungen unterschieden:4

  • ASS ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
  • ASS mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit leichtgradiger oder keiner Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
  • ASS ohne Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
  • ASS mit Störung der Intelligenzentwicklung, mit Beeinträchtigung der funktionellen Sprache
  • ASS mit Störung der Intelligenzentwicklung, Fehlen der funktionellen Sprache

Formen der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) im ICD-11.

Frühkindlicher Autismus: Warum ändern sich die diagnostischen Kategorien?

Das Wissen über Autismus wächst stetig. In verschiedenen medizinischen Forschungsarbeiten, vor allem seit Beginn der 2000er-Jahre, hat sich gezeigt, dass die klare Unterscheidung in die Kategorien Frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischer Autismus nicht möglich ist.2 So zeigten z. B. Kinder, bei denen vorher Frühkindlicher Autismus diagnostiziert wurde, in einer Untersuchung zur Steuerung ihres eigenen Verhaltens ähnliche Ergebnisse wie Asperger-Autisten.7 Und auch wenn der Beginn einer Autismus-Spektrum-Störung typischerweise in der frühen Kindheit liegt, so können Symptome doch auch erst später vollständig in Erscheinung treten.4

Eine möglichst exakte Diagnostik ist unter anderem grundlegend für die Therapie. Schon bei der Diagnosestellung sollte das Ziel sein, für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine optimale spätere Betreuung und Versorgung sicherzustellen. Dem sollte ein diagnostisches Klassifikationssystem gerecht werden.

ICD-11 in der medizinischen Praxis

ICD-10 ist im deutschen Gesundheitssystem weit verbreitet und die Umstellung auf ICD-11 ist ein langjähriger Prozess. Auf unseren Informationsseiten gehen wir daher auch weiterhin ausführlich auf die klassischen Diagnosen und ihre Symptome ein. Zahlreiche Beispiele für mögliche Anzeichen eines Frühkindlichen Autismus erläutern wir für Sie beispielsweise auf unserer Seite zu Autismus-Symptomen.

  1. Rosen, N. E. et al.: The Diagnosis of Autism: From Kanner to DSM‑III to DSM‑5 and Beyond. J. Autism Dev. Disord. 2021;51(12):4253-4270. doi: 1007/s10803-021-04904-1
  2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.: S3-Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik“, Stand Februar 2016
  3. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: Revision der ICD der WHO (ICD-11)
  4. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-11 in Deutsch – Entwurfsfassung
  5. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte: ICD-10-GM Version 2023, Kapitel V, Psychische und Verhaltensstörungen, (F00-F99)
  6. World Health Organization: History of the development of the ICD
  7. Ozonoff, S. et al.: DSM-IV-defined Asperger syndrome: cognitive, behavioral and early history differentiation from highfunctioning autism. Autism. 2000;4(1):29-46. doi: 1177/1362361300041003