Autismus kommt bei Frauen und Mädchen seltener vor als bei Männern bzw. Jungen – das gilt als unbestritten. Allerdings ist der Unterschied nicht so stark ausgeprägt wie lange vermutet: Während man zu Beginn der 2000er Jahre noch davon ausging, dass das Verhältnis von Jungen zu Mädchen etwa bei 4 : 1 liegt, ergaben spätere Studien, dass das männliche Geschlecht nur ca. zwei- bis dreimal häufiger betroffen ist.1 Seitdem rücken Fragen zu Autismus bei Frauen mehr in den Fokus: Wie äußert sich eine weibliche Autismus-Spektrum-Störung – und gibt es Unterschiede zu Männern?

Autismus bei Frauen: öfter verborgen …

Mädchen sind meist sozial angepasster als Jungen – dies gilt für neurotypische Mädchen sowie auch für Mädchen mit Autismus. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass Mädchen eine Autismus-Spektrum-Störung mit ihrer sozialen und kommunikativen Kompetenz besser verbergen können. Sie haben nicht so oft auffallende Spezialinteressen und verhalten sich weniger häufig aggressiv und hyperaktiv. Studien zeigen, dass Mädchen im Vergleich zu Jungen mehr begleitende Verhaltensauffälligkeiten und kognitive Probleme zeigen müssen, um eine klinische Autismus-Diagnose zu erhalten.1

… und später diagnostiziert

Dies führt unter anderem dazu, dass eine Autismus-Spektrum-Störung bei Mädchen später diagnostiziert wird: Jungen bekommen die Diagnose im Schnitt etwa 1,5 Jahre früher.2 Mit zunehmendem Alter wird die Diskrepanz im Verhältnis der Autismus-Diagnosen zwischen Jungen und Mädchen zwar kleiner, dennoch erhalten betroffene Frauen eine Autismus-Diagnose oft erst relativ spät, nicht selten erst im Erwachsenenalter.2, 3 Dabei ist eine frühe Diagnose sehr wichtig für die richtige und rechtzeitige Förderung und Therapie.

Unterschiedliche Hirnentwicklung bei Jungen und Mädchen mit Autismus

Außer der sozialen Anpassungsfähigkeit weisen autistische Mädchen und Jungen auch Entwicklungsunterschiede auf. Die meisten Mädchen zeigen z. B. in ihren ersten Lebensmonaten keine Vergrößerung des Gehirns – ein Merkmal, das für autistische Jungen vor allem früher als typisch galt. Auch hinsichtlich der Interaktion einzelner Gehirnregionen und bei neuronalen Verknüpfungen gibt es Unterschiede. Insgesamt muss die abweichende Entwicklung des Gehirns bei Jungen und Mädchen mit Autismus aber noch genauer erforscht werden.2

Warum gibt es weniger Fälle von Autismus bei Frauen?

Generell werden die Sexualhormone immer wieder als eine der Ursachen für Autismus-Spektrum-Störungen diskutiert, z. B. der erhöhte Gehalt an Testosteron bei der Entwicklung des Kindes im Mutterleib. Da sich die Verteilung und die Regulation der männlichen und weiblichen Sexualhormone bei der Entwicklung von Jungen und Mädchen unterscheiden, könnte dies auch ein Grund für die unterschiedliche Häufigkeit von Autismus bei den Geschlechtern sein.1, 4

Doch auch die Diagnostik spielt wohl eine Rolle: Die gängigen diagnostischen Tools ADOS und ADI-R wurden überwiegend mit männlichen Probanden entwickelt.2 Studienergebnisse von Forschenden des Massachusetts Institute of Technology deuten darauf hin, dass weibliche Probanden z. B. mit ADOS überdurchschnittlich oft von der Diagnose ausgeschlossen werden und Autismus bei Frauen daher unterdiagnostiziert ist.5 Hierzu passt auch, dass die Zahl der Autismus-Diagnosen generell zwar seit Jahren steigt, das Verhältnis von Jungen zu Mädchen sich hierbei aber weniger stark verändert.2

Lange vernachlässigt: Forschung zu Autismus bei Frauen

Da Autismus viele Jahre als überwiegend männliche Entwicklungsstörung angesehen wurde, hat die Wissenschaft der Erforschung des weiblichen Autismus lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In vielen Studien über Autismus sind erwachsene Frauen und Mädchen nicht ausreichend repräsentiert.2

Dies führt nicht nur dazu, dass über die Unterschiede zwischen autistischen Mädchen und Jungen zu wenig bekannt ist, sondern auch, dass allgemeine Aussagen über Autismus bei Frauen schwierig zu treffen sind und viele Fragen noch unbeantwortet bleiben. Da die Zahl an Autismus-Diagnosen bei Mädchen aber zunehmend steigt und die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Problem verstärkt erkennen, wird auch Autismus bei Frauen zukünftig hoffentlich immer besser verstanden.2

  1. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V.: S3-Leitlinie „Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 1: Diagnostik“, Stand Februar 2016
  2. Wu Nordahl, C.: Why do we need sex-balanced studies of autism? Autism Res. 2023;16(9):1662-1669. doi: 1002/aur.2971
  3. Smith DaWalt, L. et al.: Health profiles of adults with ASD: Differences between women and men. Autism Res. 2021;14(9):1896-1904. doi: 1002/aur.2563
  4. Simantov, T. et al.: Medical symptoms and conditions in autistic women. Autism. 2022;26(2):373-388. doi: 1177/13623613211022091
  5. D’Mello, A. M. et al.: Exclusion of females in autism research: Empirical evidence for a “leaky” recruitment-to-research pipeline. Autism Res. 2022;15(10):1929-1940. doi: 1002/aur.2795