Digitale Welten – Risiko, Rückzugsort, Rettungsanker

Digitale Medien gehören längst zum Alltag der allermeisten Kinder – und doch wird kaum ein Thema so widersprüchlich diskutiert. Für die einen sind sie Tor zur Welt, für andere Ursache von Sorgen. Besonders bei Kindern im Autismus-Spektrum ist der Einfluss von Bildschirmen vielschichtig: Er kann beruhigen, überfordern, verbinden oder isolieren. Die Forschung zeigt, dass sich die Wirkung digitaler Medien im Laufe der Entwicklung stark verändert.

Dieser Beitrag begleitet ein fiktives Kind – Leon – auf seinem Weg vom Kleinkind zum Jugendlichen. Seine Geschichte steht stellvertretend für viele Kinder im Autismus-Spektrum. Drei Lebensphasen zeigen, wie digitale Medien sich im Laufe der Entwicklung verändern – vom möglichen Risiko zur wertvollen Ressource.

Frühe Jahre: Wenn der Bildschirm zu früh kommt

Leon ist zwei Jahre alt. Wenn er quengelt, hilft das Tablet – Musik, bunte Farben, vertraute Stimmen. Es scheint zu wirken: Leon wird ruhig, seine Eltern erleichtert. Doch bald fällt auf, dass er weniger Blickkontakt sucht und kaum auf seinen Namen reagiert.

Genau dieses Muster untersuchte eine systematische Übersichtsarbeit mit über 53 000 Kindern aus elf Studien.1 Das Ergebnis: Je länger Kinder digitalen Bildschirmen ausgesetzt sind, desto höher ist das Risiko, dass sie Merkmale einer Autismus-Spektrum-Störung entwickeln. Und auch der Zeitpunkt spielt eine Rolle: Je früher der Kontakt zu Bildschirmmedien beginnt, desto stärker scheint dieses Risiko ausgeprägt zu sein – besonders bei Exposition im ersten Lebensjahr.

Warum? Das Gehirn ist in den ersten Lebensmonaten besonders empfindlich. In dieser Zeit bilden sich wichtige Verbindungen zwischen Nervenzellen – durch Berührung, Sprache, Nachahmung. Wenn der Bildschirm echte Interaktion ersetzt, verlangsamt sich die Entwicklung von Sprache, Aufmerksamkeit und sozialem Verhalten. Auch andere Studien zeigen, dass frühe Bildschirmzeit mit Schlafstörungen und erhöhter Reizbarkeit
einhergeht – beides sind Faktoren, die eine spätere Abhängigkeit begünstigen können.2 Besonders problematisch ist dabei die Helligkeit vieler Geräte, vor allem in den Abendstunden: Das sogenannte blaue Licht von Tablets und Smartphones hemmt die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin und kann so das Einschlafen verzögern. Wärmere, rötliche Lichttöne stören den Schlaf deutlich weniger.

Fachgesellschaften empfehlen deshalb:3 Unter drei Jahren sollten Kinder gar keine digitalen Medien nutzen – auch nicht beim Fernsehen der Eltern zusehen. Zwischen drei und sechs Jahren gilt: höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen, und das nur gemeinsam mit den Eltern. Entscheidend ist die Begleitung: Kinder brauchen Vorbilder, die erklären, was sie sehen, und den Bildschirm immer wieder durch echtes Spiel und Begegnung ersetzen.

Nachdem Leon zunehmend in seine eigene Welt abtaucht, entscheiden seine Eltern, digitale Medien vorerst ganz beiseitezulegen. Stattdessen nehmen sie Unterstützung durch eine Frühintervention in Anspruch – gezielte spielerische Therapien, bei denen Leon lernt, auf Gesichter, Stimmen und Gesten zu reagieren. Sie üben gemeinsam Blickkontakt, Nachahmung und einfache soziale Spiele. Zu Hause setzen sie das fort: lesen, spielen, draußen sein.

Nach einigen Wochen merken sie, dass Leon wieder häufiger Blickkontakt sucht, auf seine Eltern reagiert und mehr Interesse an seiner Umgebung zeigt. Die Bilder auf dem Bildschirm haben Platz gemacht für echte Begegnung.

Schulzeit und frühe Jugend: Ein sicherer Ort im Netz

Inzwischen ist Leon 13 Jahre alt. Er liebt Videospiele – vor allem solche, die er allein spielen kann. Wie viele Kinder im Autismus-Spektrum zieht er Singleplayer-Spiele dem Online-Wettbewerb vor.4 Studien zeigen, dass Jungen und Mädchen mit Autismus häufiger und länger spielen als Gleichaltrige ohne Autismus.5 Dabei bevorzugen sie Spiele, in denen sie Kontrolle behalten und ungestört in ihre Welt eintauchen können.

Doch Leon nutzt Medien nicht nur zum Spielen. Nach der Schule schreibt er mit Freunden in einem Chat. Online zu kommunizieren, fällt ihm leichter als im Klassenzimmer. Er kann nachdenken, bevor er antwortet, und muss niemandem direkt in die Augen sehen.

Eine Auswertung von elf Studien aus dem Jahr 2024 zeigt, dass viele Jugendliche mit Autismus Online-Kommunikation als befreiend empfinden.6 In Chats und Foren müssen sie sich weniger verstellen. In der Fachsprache nennt man dieses Verstellen Camouflaging oder Masking: das bewusste Unterdrücken autistischer Merkmale, um in sozialen Situationen dazuzugehören. Forschungen belegen, dass Camouflaging oft mit Stress, Depressionen und geringerem Wohlbefinden einhergeht.6

Besonders interessant: Eine britische Studie fand, dass Camouflaging in Online-Umgebungen deutlich seltener vorkommt.7 Das bedeutet, dass Jugendliche wie Leon im Netz authentischer sie selbst sein können – ohne Angst, bewertet zu werden.

Auch die soziale Seite ist wichtig: In Studien mit über 900 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zeigte sich, dass soziale Medien die Qualität von Freundschaften verbessern können, wenn sie maßvoll genutzt werden.4, 5, 7 Eine moderate Nutzung – also etwa zwei bis vier Stunden täglich – war sogar mit höherem Wohlbefinden verbunden.

Leons Eltern bemerken, dass ihr Sohn im Netz aufblüht. Er lacht, erzählt von Gleichgesinnten, die seine Interessen teilen. Sie vereinbaren feste Medienzeiten und sprechen über das, was er erlebt. So bleibt das Digitale Teil seines Alltags – aber kein Ersatz für das echte Leben.

Ein Jugendlicher kommuniziert in Chats und Foren mit Gleichaltrigen: Digitale Medien können bei Autismus ein Sprachrohr sein.

Zwischen Nähe und Gefahr: Wenn die digitale Welt kippt

Mit 16 wird Leons Online-Leben intensiver. Er verbringt viele Stunden in sozialen Netzwerken, teilt Bilder, schreibt in Gruppen. Doch eines Tages liest er in einem Chat beleidigende Kommentare über sich. Erst glaubt er an ein Missverständnis, dann merkt er: Es ist Absicht.

Cybermobbing ist heute eines der größten Risiken digitaler Kommunikation. Im Gegensatz zu klassischem Mobbing ist es unsichtbar, anonym und allgegenwärtig. Eine britische Studie mit fast 80 Erwachsenen mit Autismus zeigte, dass sie doppelt so häufig Opfer von Cybermobbing werden wie nicht-autistische Menschen.8 Häufige Folgen sind ein niedrigeres Selbstwertgefühl und depressive Symptome.

Zudem besteht bei Jugendlichen mit Autismus ein höheres Risiko für übermäßigen Medienkonsum.8 Wenn Bildschirme zur Hauptquelle von Sicherheit werden, droht Abhängigkeit – insbesondere bei zusätzlichen Aufmerksamkeitsproblemen. Fachleute sprechen von „dysreguliertem Mediengebrauch“, wenn andere Lebensbereiche wie Schlaf, Schule oder Bewegung darunter leiden.

Doch auch hier gilt: Es kommt auf das Maß an. Studien zeigen, dass moderate, bewusst gestaltete Mediennutzung positive Effekte haben kann – etwa, wenn Jugendliche gemeinsam mit anderen spielen oder sich über ihre Interessen austauschen. Leons Eltern nehmen sich vor, regelmäßig mit ihm über seine Online-Erlebnisse zu sprechen. Gemeinsam finden sie Wege, Grenzen zu setzen, ohne Verbote auszusprechen.

Mit dieser Unterstützung gelingt es Leon, das Netz wieder als Ort der Verbindung zu erleben. Er nutzt seine Lieblingsspiele, um zu entspannen, und schreibt in Foren über Themen, die ihm wichtig sind. Er hat gelernt: Nicht jede digitale Begegnung tut gut – aber manche können bereichern.

Wenn Medien Brücken bauen

Leons Geschichte zeigt: Digitale Medien verändern ihre Bedeutung mit dem Alter. Was in der frühen Kindheit zum Risiko werden kann, wird in der Jugend oft zur wichtigen Brücke in die Welt. Die Forschung macht deutlich, dass Medien weder gut noch schlecht sind – sie entfalten ihre Wirkung je nach Zeitpunkt, Inhalt oder pädagogischer Begleitung.

In den ersten Lebensjahren sollten Kinder keine digitalen Medien nutzen – auch kein passives Zuschauen. Nähe, Sprache und gemeinsames Spiel sind in dieser Phase das Wichtigste für die Entwicklung. Später dürfen Medien durchaus helfen, Kontakt aufzubauen und Sicherheit zu geben – solange Eltern aufmerksam bleiben und echte Begegnungen nicht aus dem Blick geraten.

Für Kinder wie Leon können digitale Räume ein Ort des Wachstums, des Lernens und der Selbstfindung sein. Wenn Eltern sie begleiten, statt sie zu verbieten, entstehen Verständnis, Vertrauen und Balance – und aus dem Bildschirm wird keine Barriere, sondern eine Brücke.

  1. Sarfraz, S., Shlaghya, G., Narayana, S., et al. (2023, July 22). Early screen-time exposure and its association with risk of developing autism spectrum disorder: A systematic review. Cureus, 15(7), e42292. https://doi.org/10.7759/cureus.42292
  2. Lin, J., Magiati, I., Chiong, S. H., et al. (2019). The relationship among screen use, sleep, and emotional/behavioral difficulties in preschool children with neurodevelopmental disorders. Journal of Developmental & Behavioral Pediatrics, 40(7), 519–529. https://doi.org/10.1097/DBP.0000000000000683
  3. Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). (2024, November). Eltern-Leitlinie: Prävention dysregulierten Bildschirmmediengebrauchs bei Kindern und Jugendlichen (S2k). https://register.awmf.org/assets/guidelines/027_D_Ges_fuer_Kinderheilkunde_und_Jugendmedizin/027-075eltern_S2k_Praevention-dysregulierten-Bildschirmmediengebrauchs-Kinder-Jugendliche_2024-11.pdf
  4. Mazurek, M. O., & Wenstrup, C. (2013). Television, video game and social media use among children with ASD and typically developing siblings. Journal of Autism and Developmental Disorders, 43(6), 1258–1271. https://doi.org/10.1007/s10803-012-1659-9
  5. Kuo, M. H., Orsmond, G. I., Coster, W. J., & Cohn, E. S. (2014). Media use among adolescents with autism spectrum disorder. Autism, 18(8), 914–923. https://doi.org/10.1177/1362361313497832
  6. Neumann, M., Mundigl, J., Mittmann, G., Dorczok, M. C., Dörfler, S., & Steiner-Hofbauer, V. (2024). Chancen, Risiken und Einfluss auf das Wohlbefinden: Ein Scoping Review zum digitalen Medienkonsum bei Autismus-Spektrum-Störung. Psychologie in Österreich, 3(2024), 224–232.
  7. Jedrzejewska, A., & Dewey, J. (2022). Camouflaging in autistic and non-autistic adolescents in the modern context of social media. Journal of Autism and Developmental Disorders, 52(2), 630–646. https://doi.org/10.1007/s10803-021-04953-6
  8. Alhujaili, N., Platt, E., Khalid-Khan, S., & Groll, D. (2022). Comparison of social media use among adolescents with autism spectrum disorder and non-ASD adolescents. Adolescent Health, Medicine and Therapeutics, 13, 15–21. https://doi.org/10.2147/AHMT.S344591

Zuletzt aktualisiert am 11.11.2025